Was ist falsch in der Rede von L. Klingbeil?

von Wilfried Schollenberger, Stand: 07.04.2023, Erstfassung: 26.10.2022

Inhalt

Anlass

Auf der SPD-Veranstaltung „Zeitenwende: Sicherheit und Frieden in Europa“ hat der SPD-Co-Vorsitzende Lars Klingbeil eine Grundsatzrede zur „grundlegende(n) Neupositionierung sozialdemokratischer Außen- und Sicherheitspolitik“ gehalten1, die 2023 in einen Parteitagsbeschluss münden soll. Dies ist ein Beitrag zu der meines Erachtens erforderlichen Debatte.

Grundsätzlich stimme ich Lars Klingbeil zu, wenn er sagt: „Es kann und wird mit Russland keine Rückkehr zum Status Quo vor dem Krieg gegen die Ukraine geben. Die Welt vor dem 24. Februar gibt es nicht mehr. Wir tragen jetzt die Verantwortung, das Neue zu gestalten.“ Damit meine ich aber vor allem die wirtschaftlichen Verflechtungen: Dass westliche Unternehmen ihre gerade geschlossenen und aufgegebenen Niederlassungen und Investitionen in Russland schnell wieder öffnen bzw. aufnehmen, ist meines Erachtens schwer vorstellbar. Aber eine europäische Sicherheitsarchitektur lässt sich nach meiner Erfahrung und Überzeugung nur im Konsens mit allen relevanten Akteuren, also auch Russland, aufbauen.

Zusammenfassung

Lars Klingbeils Rede enthält einige rückblickende Umdeutungen der jüngeren Geschichte Deutschlands und unserer Partei, die zu einem radikalen Schwenk und einer Neuauflage der Rhetorik des „Kalten Kriegs“ in den 50er (!) Jahren führen würden.

Das betrifft insbesondere seinen Bezug auf die Politik von Willy Brandt, Egon Bahr und Helmut Schmidt, der schlicht unzutreffend ist, ebenso wie seine Unterstellung, deutsche Politiker hätten in den letzten 20 Jahren gegenüber Russland blauäugig agiert und „das Trennende übersehen“.

Aber auch seine Beschreibung der aktuellen Realität ist durch seinen Fokus auf den Krieg in der Ukraine und die unbedingte und uneingeschränkte Übernahme der Positionen des ukrainischen Präsidenten verzerrt.

Wenn Lars Klingbeil dann auch noch eine deutsche „Führungsmacht“ beansprucht und „mehr Verantwortung übernehmen“ will, muss entschieden widersprochen werden:

  1. „Das Neue“ darf kein Zurück zur Konfrontation der Blöcke, wie in den 50er und frühen 60er Jahren, werden.
  2. Die Stärke sozialdemokratischer Politik war nie „Führung“, sondern sind Vermittlung und Kompromisse.

Geschichts-Revisionismus

In seiner Rede pflegt Lars Klingbeil einen verklärten und selektiven Bezug auf die Entspannungspolitik Willy Brandts, Egon Bahrs und Helmut Schmidts.

Brandts Außenpolitik

Lars Klingbeil meint: „Seine [Brandts] Außenpolitik war ein erfolgreicher Dreiklang aus erstens Diplomatie, zweitens klarer Haltung mit Blick auf Menschenrechte und internationales Recht – darunter das klare Bekenntnis zur Unverrückbarkeit von Grenzen – und drittens der eigenen militärischen Stärke.“

Zuallererst: Brandt und Schmidt folgten sehr konsequent dem Grundsatz der „Nicht-Einmischung in innere Angelegenheiten“, der letztendlich die Gründung der OSZE erst ermöglichte. Diesem Grundsatz folgend verzichteten sie unter anderem auf eine offizielle Unterstützung von Solidarność. Auch Menschenrechtsverletzungen in der UdSSR oder der Schießbefehl und die Selbst-Schuss-Anlagen an der innerdeutschen Grenze wurden nicht zum Anlass für den Abbruch von Gesprächen genommen.

Gegenüber der UdSSR, Polen und der DDR war ihre Außenpolitik, sehr zum Unmut der CDU/CSU, durch Rechtsverzicht geprägt: In ihrer Amtszeit hat die BRD im Moskauer Vertrag vom 12. August 1970 (in Kraft getreten am 12. Juni 1972) erklärt, dass sie keine Gebietsansprüche gegen irgend jemand hat und solche in Zukunft auch nicht erheben wird, und dass sie die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich betrachtet, wie sie am Tage der Unterzeichnung dieses Vertrages verlaufen, einschließlich der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze zur Volksrepublik Polen und der Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. Dieser faktischen Anerkennung wurde aber juristisch 1975 durch das Bundesverfassungsgericht widersprochen, welches erklärte, Veränderungen im territorialen Status von Deutschland könnten völkerrechtlich verbindlich allein von den vier Siegermächten vorgenommen werden.2

Und in Bezug auf die militärische Stärke betonte Helmut Schmidt in seinem Buch „Die Strategie des Gleichgewichts“ (1969), dass der defensive Charakter von Rüstung in Europa immer klar erkennbar bleiben müsse. Deshalb war der NATO-Doppelbeschluss in der SPD besonders stark umstritten und wurde nach dem Verlust der Regierung auch abgelehnt.3

Im Übrigen zeigen die SIPRI-Daten, dass die Rüstungsausgaben preisbereinigt zur Regierungszeit Willy Brandts nicht höher waren als in der letzten Legislaturperiode Angela Merkels. Lediglich der Anteil am BIP war größer.

Military expenditure by country, in constant (2021) US$

Country196919701971197219732017201820192020
United States of America599.880555.938500.192499.473474.662682.878703.431743.403778.397
Western Europe








France34.06234.25234.72135.62936.92951.71350.43751.27052.747
Germany43.56144.05747.20050.49152.42844.48045.71050.14953.211
Italy13.98414.76016.58818.41118.38127.30327.57626.82228.921
United Kingdom44.58445.92345.82048.73848.90054.25454.97957.71360.675
Quelle: https://milex.sipri.org/sipri

Zerrüttung des Verhältnisses mit Russland

Wenn man die NATO-Länder insgesamt nimmt, war Putins Rede im Bundestag am 25. September 2001 wohl der Höhepunkt der guten Beziehungen. Bald danach verschlechterten sich die Beziehungen, was Putin in seiner Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz am 10. Februar 20074 deutlich zum Ausdruck brachte. Für die EU, insbesondere einzelne Länder wie Frankreich und Deutschland, gilt das nicht in gleichem Maße, was Lars Klingbeil rückblickend als „Fehler“ umdeutet.

Blauäugiges Verhältnis zu Russland?

Lars Klingbeil kritisiert: „In Deutschland gab es in den vergangenen Jahren einen von weiten Teilen der Gesellschaft getragenen Konsens, dass enge Beziehungen zu Russland gut für uns sind. Gut für Russland sind. Gut für ein friedliches Europa sind. […] Dabei haben wir allerdings verkannt, dass die Rahmenbedingungen dieser Beziehung längst verändert wurden.“

Spätestens seit der Krim-Annexion und den verhängten Sanktionen kann keine Rede davon sein, dass auch nur eine Regierung eines NATO-Landes diese Veränderungen ignoriert hätte. Es waren bewusste Entscheidungen, zum Beispiel zum Bau von Nord Stream 2 trotz der Annexion der Krim. Sie folgten der Logik, lokale Konflikte zu begrenzen, um die grundsätzliche Verständigung weiterführen zu können. Das hat man auch bei den Abrüstungs- und Rüstungskontroll-Verträgen in den 80er Jahren so gehalten, als der sowjetische Krieg in Afghanistan keine Rolle spielte.

Es waren vor allem die USA, die in den letzten Jahren Verträge zur Rüstungsbegrenzung auslaufen ließen und wegen aus ihrer Sicht fehlender Kooperation Russlands kündigten. Angesichts ihres Vertrauens auf ihre Übermacht hatten die USA schon seit längerem an solchen Verträgen grundsätzlich kein Interesse mehr. Wenn dann nur noch ein Teil des NATO-Bündnisses versucht, gute Beziehungen zu pflegen, kann das nicht funktionieren.

Verpflichtungen aus gemeinsamer Geschichte

Nur am Rande: Wer, vielleicht außer Lars Klingbeil, hat in irgendeiner öffentlichen Äußerung „daran geglaubt“, dass eine besondere Geschichte Deutschland und Russland verbinde, und aus dieser Verbindung eine gegenseitige (!) Verpflichtung resultiere?

Wohl gab es vereinzelt das Narrativ, dass eine besondere Verpflichtung Deutschlands aus dem Leid, welches die deutsche Kriegsführung im Zweiten Weltkrieg über Russland gebracht hat, und aus dem Umstand, dass wir Russland für die Zustimmung zur deutsch-deutschen Vereinigung zu Dankbarkeit verpflichtet seien, erwachse. Aber umgekehrt? Wie wäre diese Verpflichtung Russlands zu begründen (gewesen)?

Abhängigkeiten

Lars Klingbeil kritisiert den „einseitige[n] Aufbau der Importinfrastruktur mit Russland“, die aus seiner Sicht „politische“ Blockade von LNG-Terminals und den schleppenden Ausbau erneuerbarer Energien. „Diese Politik war einseitig. Sie war nicht nachhaltig.“

Rhetorisch wirft er hier viele Aspekte zusammen, die seinerzeit auch unter dem Aspekt der Brücken-Technologie auf dem Weg in eine CO2-neutrale Wirtschaft debattiert wurden.

Aber waren es nicht die NATO-Länder und die EU, zu deren Sanktionspaket der möglichst rasche Abbau von Importen aus Russland gehörte? Erinnert sei an dieser Stelle an die Debatten um den sofortigen Stopp der deutschen Gas-Importe aus Russland.

Was aktuell hier als „Abhängigkeiten“ beklagt wird, war gleichzeitig auch ein Teil des Droh- und Sanktions-Potenzials. Und wer kann es dem Sanktionierten verdenken, wenn er die Sanktionen beschleunigt?

Lars Klingbeil schließt: „Wir haben die sicherheitspolitische Dimension unserer Energieversorgung verkannt. Eine solch einseitige Abhängigkeit darf nie wieder passieren.“

Eine „sicherheitspolitische Dimension unserer Energieversorgung“ gab es in den 70er Jahren, als die arabischen Förderländer versuchten, mit einem Boykott die westliche Unterstützung Israels zu beenden. Aber hat Russland (oder auch China) jemals in den letzten 30 Jahren mit irgendeinem vergleichbaren Boykott gedroht?

Letztendlich dient dieser Abhängigkeits-Diskurs nur dazu, die Konzentration auf den eigenen (Groß-)Wirtschaftsraum, EU, Nordamerika und andere, zu begründen. Oder würde es sich irgendein deutsches Regierungsmitglied trauen, die Reduktion der Chip-Importe aus Taiwan auf ein „resilientes Niveau“ zu fordern, weil ein chinesischer Überfall auf Taiwan in Europa zu einem akuten Chip-Mangel führen würde5?

Interpretation der Realität

Lars Klingbeil interpretiert nicht nur die Vergangenheit teilweise neu. Auch sein Blick auf die aktuelle Welt-Lage, und um die sollte es doch bei einer „grundlegenden Neupositionierung“ gehen, ist, freundlich ausgedrückt, ausgesprochen selektiv.

Block-Konfrontation mit lokalem Konflikt verschleiern

Mit einem vollkommen falschen Bezug auf Egon Bahr meint Lars Klingbeil: „Die Realität heute ist die Zeitenwende. Definiert durch den 24. Februar und den brutalen Angriff Russlands auf die Ukraine.“

Für die aktuelle Unterstützung der Ukraine in ihrem Verteidigungskrieg mag diese Einstellung gelten. Aber zur Realität gehört auch, dass immer noch (mindestens) 2 Staaten so hochgerüstet sind, dass sie bei einem Einsatz all ihrer Atomwaffen das Leben in sehr großen Teilen der Erde weitgehend auslöschen würden. Gerade angesichts der (global gesehen) konventionellen Übermacht der NATO unter der Führung der USA muss es das oberste Ziel „unserer“ (europäischen) Außenpolitik bleiben, dieses Schreckens-Szenario zu vermeiden. Das „Verhindern“ liegt nicht in unserer (NATO-)Macht.

Territoriale Integrität und politische Souveränität

Lars Klingbeil meint: „Die territoriale Integrität hat für Putin keinen Wert. […] Die politische Souveränität eines Staates hat für Putin keinen Wert. […] Es gilt die Stärke des Rechts und nicht das Recht des Stärkeren.“

Sicher, niemand in der EU will Grenzen mit Gewalt verschieben. Aber schon unser NATO-Partner, die Türkei, nimmt es mit der „territorialen Integrität“ und der „politischen Souveränität“ seiner Nachbarstaaten Irak und Syrien nicht so genau. Und wenn er aktuell in Syrien die Kurden (nicht nur die YPG) verfolgt und vertreibt, dient das auch nicht der Durchsetzung von Menschenrechten.

Ist es nicht ein gravierender Eingriff in die Souveränität eines Staates, wenn die Türkei als Preis für den NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands die Auslieferung geflüchteter Kurden und Gülenisten fordert, und der Rest der NATO das (widerwillig?) akzeptiert?6

Wir haben in der EU viele Erfahrungen im Umgang mit nationalistisch-ethnischen Konflikten, die mit den Separatisten in der Ukraine durchaus vergleichbar sind. Die ETA in Spanien und die IRA in Nord-Irland waren terroristische Organisationen. Die Befriedung war jedes Mal auch mit Zugeständnissen der jeweiligen Regierung verbunden. Nicht immer ist die Lösung innerhalb der EU konfliktfrei.

Wie steht es aus Sicht des UK (United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland) um seine „territoriale Integrität“ und „politische Souveränität“, wenn die EU mit allen gewaltfreien Mitteln darum kämpft, dass die EU-Außen-Grenze zwischen Irland und Nord-Irland offen bleibt, und die EU-Zoll-Grenze in das britische Territorium zwischen Nord-Irland und dem Rest des UK verlegt wird?

Kann das UK auf Lars Klingbeils Unterstützung vertrauen, wenn sich die Schotten per Referendum zum selbständigen Staat erklären? Deutschland war Vorreiter bei der Anerkennung der Jugoslawischen Teil-Republiken als Staaten, insbesondere Sloweniens und Kroatiens7.

Ein anderes Beispiel ist das politische Asyl, dass katalanische Separatisten aus Spanien in Belgien erhalten, wenn sie in Spanien strafrechtlich verfolgt werden.

Ukraine

Der Ukraine-Konflikt war nach der Maidan-Revolution zunächst vor allem ein inner-ukrainischer: Die Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlicht auf ihrer Internet-Seite8 eine Umfrage von 2019, wonach sich 23,2 Prozent der Befragten gegen den gerade in die Verfassung als Ziel aufgenommenen NATO-Beitritt aussprachen, 48,9 Prozent dafür. In den Regionen Osten, Donbass und Süden stellen sie mit jeweils rund 40 Prozent die relative Mehrheit. Bei der Frage EU-Beitritt befürworten 19,3 Prozent den Beitritt zur Eurasischen Wirtschaftsunion mit relativen Mehrheiten im Donbass und im Süden. Hier gibt es gesamt-gesellschaftlich mit 57 Prozent eine absolute Mehrheit für den EU-Beitritt. (Auf der Krim und in den von den Separatisten kontrollierten Gebieten wurde diese Umfrage nicht durchgeführt.)

Die aufständischen Separatisten in Donezk und Luhansk konnten sich also durchaus auf eine regionale politische Spaltung in Grundsatz-Fragen berufen. Und in den Verhandlungen im „Normandie-Format“ wurde dies von Deutschland und Frankreich auch so akzeptiert. (Rückblickend halte ich es für einen Fehler, dass diese Verhandlungen mit Russland und nicht direkt mit Vertretern der Separatisten geführt wurden.) In der Ukraine setzte sich dann eine Mehrheit durch, die die dabei verhandelten Kompromisse, Wahlen in Donezk und Luhansk unter OSZE-Aufsicht, ablehnte.

Für Lars Klingbeil spielt diese Geschichte keine Rolle, weil er wie alle anderen westlichen Unterstützer an der Fiktion einer einigen Ukraine festhält.

Blockbildung

In einer typischen „Haltet-den-Dieb“-Attitüde wirft Lars Klingbeil Russland vor: „Putin will eine neue Blockbildung, das dürfen wir nicht zulassen.“

Aber was sagt er selbst?

  1. „Heute geht es darum, Sicherheit vor Russland zu organisieren.“
  2. „Wir stellen Europa als geopolitischen Akteur auf.“
  3. „Wir bauen neue strategische Partnerschaften auf, um den Multilateralismus zu stärken. Dass Bundeskanzler Olaf Scholz Staaten wie Indien, Indonesien, Senegal oder Argentinien zum G7-Gipfel eingeladen hat, ist ein wichtiges Zeichen. Diplomatie, Entwicklungspolitik und Handelsabkommen werden für unsere strategischen Partnerschaften eine hohe Bedeutung haben.“
  4. „Die EU muss geopolitisch denken und handeln.“
  5. „Deutschland muss als starkes Land in Europa diese Beitrittsverhandlungen [mit Nord-Mazedonien und Albanien, später mit der Ukraine, Moldau und Georgien] vorantreiben.“
  6. „Wir müssen die EU aufnahmefähig machen. Eine EU der 30 plus Mitgliedstaaten muss handlungs- und entscheidungsfähig bleiben, etwa mit einer Reform hin zu Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheits- oder der Fiskalpolitik.“
  7. „Es ist unsere Aufgabe als Führungsmacht, gemeinsame Interessen auf internationaler Ebene immer wieder herauszuarbeiten.“
  8. „Wir sollten als Deutschland eine tragende Rolle spielen, wenn es darum geht, eine neue Friedensordnung in Europa zu schaffen und eine regelbasierte Ordnung in einer Welt im Umbruch aufrechtzuerhalten.“

Mal abgesehen von der Frage, ob es in naher Zukunft wirklich gelingen wird, die EU mit der Einführung von Mehrheitsentscheidungen zu reformieren, bleibt festzuhalten, dass es schon jetzt mit der Einigkeit in der EU an vielen Stellen hapert. Migration, Umgang mit Flüchtlingen, Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit bzw. Pluralismus in den jeweiligen Massenmedien sind nur die prominentesten Beispiele, die mit den geplanten Erweiterungen sicher nicht einfacher werden.

Für Klingbeil scheint es die Frage, wie viel Ungleichheit die EU verträgt, nicht zu geben.

Und das Gerede von der „Führungsmacht“ verschleiert, dass die EU „strategisch“ nur als Partner der USA erfolgreich agieren kann9. Welche „Friedensordnung“ will er gegen Russland schaffen? Und welche Regeln gelten in seiner Vorstellung von der regelbasierten Ordnung in einer Welt im Umbruch?

Im Endeffekt propagiert Lars Klingbeil ein Ende der sozialdemokratischen Entspannungspolitik und die aktive Einordnung der BRD (und der SPD) in eine neue auf Konkurrenz und Expansion angelegte Blockpolitik unter der Führung der USA, wobei der EU-Erweiterung und strategischen Partnerschaften eine zentrale Rolle zukommt.

Die Debatte um eine außenpolitische Strategie, die auf den Prinzipien „Gemeinsame Sicherheit“ und „Gemeinsame Entwicklung“ beruht, ist eröffnet. Es kommt jetzt auch auf das Engagement der Genossinnen und Genossen an der Basis an, damit die Partei nicht im Sog der schrecklichen Ereignisse in der Ukraine komplett ihre friedenspolitische Orientierung verliert.

1 Quelle: https://www.spd.de/aktuelles/detail/news/zeitenwende-sicherheit-und-frieden-in-europa/19/10/2022/.

2 Siehe auch: Helga Hirsch: Anerkennung der Oder-Neiße-Linie, 14.11.2010, online unter: https://www.deutschlandfunk.de/anerkennung-der-oder-neisse-linie-100.html.

3 Siehe auch: »Die SPD ist nicht die dritte Weltmacht«, Der Spiegel 38/1983, online unter: https://www.spiegel.de/politik/die-spd-ist-nicht-die-dritte-weltmacht-a-5e8cce58-0002-0001-0000-000014020481.

4 Putins Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz ist in der ARD-Mediathek dokumentiert: https://www.ardmediathek.de/video/dokumentationen/10-02-2007-putin-kritisiert-usa-politik/phoenix/Y3JpZDovL3Bob2VuaXguZGUvMjUyNDU1Mw.
Eine Abschrift der Rede findet sich auf: http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Sicherheitskonferenz/2007-putin-dt.html.
Und der Diskussion auf: http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Sicherheitskonferenz/2007-putin-disk.html.
Im Juni 2007 ordnet Horst Teltschik in einem Interview mit der NZZ diese Rede und die Bestrebungen der USA zur Aufnahme der Ukraine in die NATO kritisch ein: https://www.youtube.com/watch?v=xJSxfx-vKSc&t=776s.

5 Auf Druck der Abnehmer und der USA baut der führende taiwanische Chiphersteller TSMC Werke in Japan, Arizona und Dresden. Aufgrund des absehbar wachsenden Bedarfs ist das für Taiwan ein kleineres Problem. Ganz anders wäre die Situation für das Land, wenn die Importe aus diesem Land soweit reduziert würden, dass ein chinesischer Überfall und der damit verbundene Ausfall der Exporte keine relevanten Auswirkungen auf die Abnehmer hat. Hier zeigt sich, dass der Abhängigkeits-Diskurs auch unter geostrategischen Aspekten geführt wird, und sich „nachrangige Länder“, wie Deutschland, den geostrategischen Interessen der USA, die an einer Stärkung Taiwans interessiert sind, unterordnen.
Siehe auch: https://www.rnd.de/politik/taiwan-wieso-sind-mikrochips-die-lebensversicherung-K6CTMNCD4REKPIEFWU3IPIHYT4.html.

6 Im Fall des Exil-Journalisten Bülent Kenes hat der Oberste Gerichtshof von Schweden die Auslieferung bereits abgelehnt. Siehe: https://www.fr.de/politik/tuerkei-recep-tayyip-erdogan-nato-beitritt-schweden-auslieferung-journalist-buelent-kenes-91985876.html.
Siehe auch: https://www.fr.de/politik/tuerkei-schweden-auslieferung-exilanten-aussenminister-treffen-cavusoglu-billstroem-nato-news-91990953.html.

7 Vgl.: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/31042/der-zerfall-jugoslawiens-und-dessen-folgen/
„Nach dem Scheitern einer mit vielen Hoffnungen begleiteten internationalen Jugoslawienkonferenz im September 1991 entschloss sich die deutsche Regierung am 23. Dezember im Alleingang zur Anerkennung von Slowenien und Kroatien, während die übrigen Staaten der EG diesem Schritt am 15. Januar 1992 – oft nur widerwillig – folgten. Die völkerrechtliche Sanktionierung des jugoslawischen Staatszerfalls führte zu heftigen Debatten. […] Tatsache ist, dass Kroatien zu diesem Zeitpunkt die europäischen Kriterien für eine völkerrechtliche Anerkennung nicht erfüllte.“

8 Quelle: https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/292142/umfrage-umfragen-zum-beitritt-in-die-eu-und-in-die-nato/.
Siehe auch: https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/343747/umfragen-haltung-der-ukrainerinnen-und-ukrainer-zu-einem-moeglichen-nato-beitritt/.

9 Ganz nebenbei: Wenn die EU von „Führung“ profitiert hat, dann vor allem vom „deutsch-französischen Tandem“. Nur in der engen Abstimmung mit unseren Nachbarn war Europapolitik nachhaltig erfolgreich. Auch diesen Aspekt könnte man in seiner Rede vermissen.