Beschluss des Landesvorstandes der SPD Bremen vom 25. August 2023 als Antrag an den Bundesparteitag: „Für eine moderne Entspannungspolitik“

Für eine moderne Entspannungspolitik

1. Den Krieg beenden ‒ Diplomatische Bemühungen stärken

Der russische Angriff auf die Ukraine ist ein klarer Bruch des Völkerrechtes und eine politische und menschliche Tragödie. Der Krieg führt zu Toten, zu Verletzungen, zu Vertreibung und Zerstörung; er verschärft eine globale Nahrungsmittelkrise, treibt Europa in die Rezession, viele Länder Afrikas in den Hunger und erzeugt Schockwellen in der gesamten Weltwirtschaft. Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine sind zugleich zentrale und unverzichtbare Elemente der während der Systemkonkurrenz aufgebauten europäischen und globalen Sicherheitsarchitektur missachtet worden, namentlich der Verzicht auf die Erstanwendung von militärischer Gewalt und der Verzicht auf Versuche, Grenzen mit militärischer Gewalt zu verändern.

Wir verurteilen diesen durch nichts zu rechtfertigenden Krieg und unterstützen die Ukraine politisch, wirtschaftlich und militärisch. Bei aller Unterstützung muss aber sichergestellt bleiben, dass weder die NATO noch einzelne NATO-Staaten selbst zur Kriegspartei werden und wir in keine endlose Spirale immer weiterer Kriegshandlungen beider Seiten geraten. Die jüngsten Entwicklungen bergen eine immense Eskalationsgefahr nicht nur für die beteiligten Staaten, sondern auch für Europa und letztlich die ganze Welt, sollte die nukleare Hemmschwelle überschritten werden. Die aktuelle Kriegssituation deutet auf einen anhaltenden Abnutzungskrieg hin, bei dem letztlich die Ukraine wie auch Russland verlieren. Daher fordern wir eine Intensivierung der internationalen Diplomatie, um in diesem Krieg schnellstmöglich einen Waffenstillstand als Basis für anschließende Friedensverhandlungen zu erreichen. Erfolgreiche Diplomatie ist möglich, wie etwa das Getreideabkommen, die Gefangenenaustausche oder die Rolle der Internationalen Atomenergie Agentur bei der Inspektion ukrainischer Atomkraftwerke zeigen. Neben direkten Gesprächen mit den Kriegsparteien unter Vermittlung der EU oder einzelner Staaten wie der Türkei, gilt es auch, die Gespräche mit Staaten, die sich bei den UN-Resolutionen zur Verurteilung des russischen Überfalls enthalten haben, wie etwa Brasilien und China, zu intensivieren, um diese zu eigenen diplomatischen Anstrengungen zur Beendigung des Krieges zu motivieren.

2. Die neue multipolare Weltordnung

Der Krieg gegen die Ukraine hat nicht nur eine europäische Dimension, sondern steht auch in Zusammenhang mit den geopolitischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte. Der relative Niedergang der USA als globaler Führungsmacht und der Aufstieg Chinas als neue Weltmacht haben Folgen für die globale Stabilität. Die bisherige unilaterale Weltordnung unter Vorherrschaft der USA und des Westens ist durch das politische und wirtschaftliche Erstarken Chinas aber auch Indiens und anderer Staaten des sogenannten globalen Südens von einer multipolaren Ordnung abgelöst worden. In dieser neuen Konstellation versuchen manche Staaten in imperialistischer Manier auch mit Hilfe militärischer Gewalt, ihre Interessen und territorialen Begehrlichkeiten durchzusetzen.

Die vielfach propagierte Zuspitzung dieser geopolitischen Neuordnung als Konfrontation zwischen demokratischen und autokratischen Systemen entspricht jedoch nicht der komplexen Realität und zeichnet ein Zerrbild von den sehr differenzierten sowie teilweise auch widersprüchlichen Interessen der Staaten in den jeweiligen „Lagern“. Die in dieser Interpretation vermutete neue Systemkonfrontation birgt zudem ein erhebliches militärisches Konflikt- und Eskalationspotential. Die geopolitischen Veränderungen erfordern vielmehr eine tiefergehende Analyse der Interessen und Strategien der verschiedenen Staaten und differenzierte politische Antworten und Lösungsansätze.

Auch die vielfach bemühte „unzerbrechliche Freundschaft“ zwischen den USA und den europäischen Demokratien hat angesichts dieser geopolitischen Veränderungen deutliche Risse bekommen. Die amerikanische Politik des „America First“ unter dem republikanischen Präsidenten Trump hat gravierende Interessenunterschiede zwischen den USA und der EU offenbart. Auch wenn der demokratische Präsident Joe Biden anders agiert, kann von einer Interessenidentität selbst in zentralen sicherheitspolitischen Fragen nicht mehr vorbehaltlos ausgegangen werden. Und ein Rückfall der USA in eine rechtspopulistische, nationalistische Politik kann für die nächsten Jahre keineswegs ausgeschlossen werden. Deshalb braucht Europa eine größere strategische Souveränität.

3. Entspannungspolitik statt Konfrontationslogik

Statt einer globalen Konfrontationslogik zu folgen, treten wir für eine europäische Politik ein, die sich an den Prinzipien der unter Brandt und Bahr konzipierten Entspannungspolitik orientiert. Sicherheit basiert in dieser Konzeption selbstverständlich auch auf eigener militärischer Stärke. Die wesentliche Erkenntnis dieser Politik ist jedoch, dass Sicherheit und Frieden weder europäisch noch global gegeneinander militärisch errüstet werden können. Sicherheit kann nur als gemeinsame Sicherheit realisiert werden. Nur wenn reale oder vermeintliche Gegner ihre Sicherheitsinteressen ebenfalls gewahrt sehen, ist ein stabiler Frieden möglich. Zugleich ist sich Entspannungspolitik stets bewusst, dass gegenseitige militärische Aufrüstung und Abschreckung immer auch die Gefahr einer ungewollten oder auch beabsichtigten militärischen Eskalation beinhaltet. Deswegen ergreift Entspannungspolitik kontinuierlich Initiativen zu Rüstungskontrolle und Abrüstung. Ziel muss eine gegenseitige strukturelle Nicht-Angriffsfähigkeit sein. Darüber hinaus müssen Anstrengungen unternommen werden, um gegenseitige Feindbilder durch wirtschaftliche, politische, kulturelle und zivilgesellschaftliche Kooperation abzubauen. Daher denkt Entspannungspolitik Sicherheit stets als umfassende Sicherheit. Ohne intensive, gemeinsame und globale Anstrengungen zur Bekämpfung des Klimawandels und des besonders im globalen Süden zunehmend bedrohlichen Hungers wird keine stabile globale Friedensordnung zu erreichen sein.

Die Prinzipien der Entspannungspolitik müssen auch zukünftig die konzeptionelle Grundlage für die Politik gegenüber Russland bilden. Konzepte, die etwa einen Regime-Change oder gar einen Zerfall des russischen Staates zur Voraussetzung künftiger Kooperation machen bzw. aktiv anstreben, sind brandgefährlich. D.h. nicht, die Verbrechen Russlands bzw. der russischen Regierung im Ukraine- Krieg zu relativieren oder einer russischen Regierung naiv und vertrauensselig gegenüberzutreten. Auch nach einem Ende des Krieges werden die Beziehungen zu Russland zunächst von großen Spannungen und Misstrauen geprägt sein. Dennoch ist eine schrittweise Verbesserung der Beziehungen zu Russland in einem längerfristigen und sicherlich auch mit Rückschlägen behaftetem Prozess anstrebenswert. Dabei kommen einem stabilen Frieden zwischen Russland und der Ukraine sowie nachprüfbare gegenseitige Abrüstungs- und Rüstungskontrollvereinbarungen mit Russland eine besondere Bedeutung zu. Sicherheit dauerhaft „vor“ Russland herstellen zu wollen, ist eine Fehlorientierung. Auch in Zukunft gilt: Eine stabile Friedensordnung in Europa „gegen“ Russland wird es nicht geben.

4. Für eine europäische Friedens- und Sicherheitspolitik

Angesichts der geopolitischen Neuordnungen ist eine weitere Europäisierung der Friedens- und Sicherheitspolitik dringend erforderlich. Die europäischen Staaten brauchen eine größere eigene strategische Souveränität und auch Unabhängigkeit von den USA. Europa darf aber nicht das Ziel verfolgen, eine global agierende Militär- und Großmacht zu werden. Eine Europäisierung der Friedens- und Sicherheitspolitik sollte sich geographisch auf den Friedenserhalt in Europa und den benachbarten Ländern und Regionen konzentrieren.

Eine europäische Friedens- und Sicherheitspolitik muss der gewachsenen Struktur der europäischen Sicherheitskooperation Rechnung tragen, in der unterschiedliche Aufgaben von der EU und der NATO wahrgenommen werden.

Die EU sollte vor allem als Zivilmacht agieren und keine eigenständigen Militärstrukturen herausbilden. Wesentlichste Aufgabe der EU wäre die Entwicklung einer gemeinsamen außen-, sicherheits- und friedenspolitischen Strategie der Mitgliedstaaten, die sich eben nicht auf militärische Fragen beschränken kann, sondern im Sinne einer modernen Entspannungspolitik unterschiedlichste Politikfelder umfassen muss.

Die EU muss zudem ihr großes politisches und ökonomisches Gewicht offensiv nutzen, um im Sinne einer umfassenden Sicherheit Konfliktursachen zu bekämpfen. Der gemeinsamen Bekämpfung des Klimawandels und der Bekämpfung von Armut und Hunger auf dem afrikanischen Kontinent kommen in diesem Kontext ein herausgehobener Stellenwert zu. Dabei muss die EU ihre bisherigen Beziehungen zu den Ländern des globalen Südens kritisch hinterfragen und dort verändern, wo europäische Politik oder überkommene Strukturen der Vergangenheit (etwa die Handelsabkommen der EU mit afrikanischen Staaten oder die Franc-Zone im westlichen Afrika) einseitig europäische Interessen bedient haben und somit einer nachhaltigen Entwicklung im Wege stehen.

Zudem muss eine Friedensarchitektur entwickelt werden, die die Sicherheitsinteressen aller europäischen und benachbarten Staaten, inklusive Russland, wahrt. Deswegen brauchen wir intensive Anstrengungen, um die OSZE wiederzubeleben oder um neue Kooperations- und Konsultationsforen zu etablieren.

Zur Stärkung der eigenen Verteidigungsfähigkeit setzen wir auf eine engere Kooperation der europäischen NATO-Staaten. Die europäischen NATO-Staaten müssen die Fähigkeiten entwickeln, ihre Verteidigung selbst und im Zweifel auch ohne die USA zu gewährleisten. In diese Kooperation sollten durchaus weitere europäische Staaten einbezogen werden, soweit sie die entspannungspolitischen Prinzipien der europäischen Friedens- und Sicherheitspolitik unterstützen. Die militärische Kooperation muss die Landes- bzw. Bündnisverteidigung in den Mittelpunkt stellen. Darüber hinaus können Kooperationen bei Friedensmissionen unter der Federführung der UN sinnvoll sein, wobei eine Entscheidung im Einzelfall unverzichtbar ist. Ein europäisches, militärisches Engagement in der indo-pazifischen Region lehnen wir ab.

5. Für Rüstungskontrolle und Abrüstung

Die Ausrüstung der Bundeswehr muss auf die Landes- und Bündnisverteidigung ausgerichtet sein und Friedenseinsätze unter Führung der UN ermöglichen. Den Aufbau von Kapazitäten zur Ermöglichung von Militäreinsätzen im Indo-Pazifik lehnen wir ab.

Eine dauerhafte Steigerung des deutschen Verteidigungshaushaltes auf eine Zielgröße von 2% des BIP lehnen wir ab. Schon heute sind die Verteidigungshaushalte der europäischen NATO-Staaten mehr als das dreimal so hoch wie der russische Militäretat. Notwendig ist in Zukunft eine bessere europäische Koordinierung und Kooperation bei der Rüstungsbeschaffung. Eine derartige Bündelung europäischer Gelder eröffnet notwendige Spielräume für eine Senkung der Rüstungsausgaben und setzt Ressourcen frei zur Bekämpfung des Klimawandels und der globalen Armut.

Die Stärkung unserer militärischen Verteidigungsfähigkeit darf nicht als Bedrohung Russlands oder anderer Staaten erscheinen. Europäische Sicherheitspolitik muss klar defensiv strukturiert sein. Wir treten für neue Abrüstungsinitiativen in Europa ein. Die europäischen NATO-Staaten bzw. die EU sind gefordert, eigene Initiativen zur Rüstungskontrolle und Abrüstung zu entwickeln. Der ausgelaufene INF-Vertrag mit Russland zur Begrenzung atomarer Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa muss erneuert werden. Dabei sollte die Beendigung der atomaren Teilhabe Deutschlands ein Verhandlungsangebot sein. Deutschland sollte den Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichnen und ratifizieren. Gleichzeitig werben wir für die Aufnahme konventioneller Abrüstungsverhandlungen zwischen den europäischen NATO-Staaten und der EU auf der einen und Russland auf der anderen Seite, um eine Begrenzung und Reduzierung der als offensiv angesehenen Waffen zu erreichen.