Antrag des Unterbezirks Bad Tölz-Wolfratshausen: „Positionen zum und Konsequenzen aus dem Krieg in der Ukraine“

Antrag:

Positionen zum und Konsequenzen aus dem Krieg in der Ukraine

Antragsteller: Unterbezirk Bad Tölz-Wolfratshausen
Adressaten: Bundesparteitag 8. bis 10. Dezember 2023, Parteivorstand, SPD-Bundestagsfraktion

Wir setzen uns für eine breite gesellschaftliche Debatte über Wege zu einer friedlicheren Welt ein und beantragen, dass die SPD sich dabei an folgenden Aspekten orientiert:

1) Russischer Angriff auf die Ukraine – Dimensionen eines Krieges in Europa

Der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 stellt einen Verstoß gegen das Völkerrecht, gegen bestehende Verträge und gegen die europäische Friedensordnung dar. Dazu kommen massive innereuropäische und innenpolitische Verwerfungen innerhalb und zwischen einzelnen Staaten.
Die nüchterne politisch-rechtliche Bewertung darf nicht über das millionenfache menschliche Leid hinweggehen, die in die Hunderttausende gehende Zahl von Toten und Verletzten, die Zerstörungen, und die weit über die Region hinausgehenden Schäden auf der ganzen Welt in Form von Nahrungsmittelknappheit, Klimaschäden, materiellen Kosten und dauerhaften Wohlstandsverlusten.
Beide Seiten liefern keine realistischen Zahlen über das Ausmaß ihrer Verluste. Auch Geheimdienste, Regierungen und Medien erlauben der breiten Öffentlichkeit keine realistischen Vorstellungen des Grauens. Produktionsausfälle, Zerstörungen an Infrastrukturen, Gebäuden und andere materielle Schäden sind kaum zu überblicken. Die EU und die USA rechnen schon nach einem Jahr mit Wiederaufbaukosten von 700 bis 1000 Milliarden Euro.
Die Kriegskosten der russischen Seite entziehen sich ebenso unserer Kenntnis, die Kosten auf ukrainischer Seite werden zusammen mit den laufenden Ausgaben des ukrainischen Staates von den Verbündeten des Westens getragen. Der ukrainische Staat alleine ist de facto zahlungsunfähig und wird zu rund einem Drittel von der EU und den USA finanziert. Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnet in den nächsten vier Jahren allein zur Sicherung des „normalen“ ukrainischen Staatshaushalts mit Kosten von 115 bis 140 Mrd. Dollar.
Bisher haben die EU rund 30, die USA 24,5 Mrd. Euro zugesagt und zusammen knapp 25 Mrd. ausgezahlt. Hinzu kommen die direkten Kosten für die militärische Ausrüstung. Allein für Deutschland rechnet die Bundesregierung mit insgesamt rund 15 Mrd. Ausgaben für die Waffenlieferungen in die Ukraine. Weder bei den mittelbaren, noch bei den unmittelbaren Kriegskosten ist ein Ende absehbar. Diese Mittel müssen in anderen Ressorts eingespart werden.

Sicher ist auch, dass der Krieg deutliche Spuren in der Weltwirtschaft hinterlässt, da die gestiegenen Kosten für Energie und Rohstoffe, die Ausfälle der ukrainischen und russischen Produktion sowie die Kosten der weltweiten Aufrüstung enorme Wohlstandsverluste nach sich ziehen. Vor allem in den ärmsten der armen Staaten leiden noch mehr Menschen an Hunger. Die mit jedem Krieg einhergehende Inflation belastet vor allem die mittleren und unteren Einkommen, sowohl in Deutschland als auch im Weltmaßstab. In der Folge erhöhen die Zentralbanken die Zinsen, was wiederum Wachstum und Investitionen bremst. Nahezu die ganze Welt bekommt die wirtschaftlichen und politischen Folgen von militärischen Konflikten dieser Größenordnung zu spüren, von den politischen Kosten ganz zu schweigen.
Der Krieg ist einer der größten Klimakiller und führt aktuell jede Klimapolitik nahezu ad absurdum. Nach vorsichtigen Schätzungen produziert er jeden Tag soviel CO2 wie 10 Millionen durchschnittliche deutsche Haushalte. Schon ohne diesen Krieg ist der militärische Sektor für rund sechs Prozent aller weltweiten Klimaschäden verantwortlich. Die aktuellen Kriegsfolgen für das Klima sind kaum korrekt zu beziffern, da die USA 1997 die Berechnung des militärisch bedingten CO2-Ausstoßes aus dem Kyoto-Protokoll streichen ließen. Etwas gemildert wird dieser Effekt durch den womöglich schnelleren Ausstieg aus fossilen Brennstoffen in einigen Industrieländern.

Die wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Kosten hängen natürlich insgesamt davon ab, wie lange der Krieg dauern wird, wie die Energiewende organisiert wird und wer am Ende die Zeche bezahlt. Wenn die gegenwärtigen Ausgleichsprogramme auslaufen, die CO2-Preise weiter steigen und die Umbaukosten bei den Haushalten ankommen, wird sich der ohnehin vorhandene Bedarf an staatlicher Umverteilung noch drastischer erhöhen.

2) Russischer Angriff auf die Ukraine: nichts aus heiterem Himmel

Jeder Krieg hat eine Vorgeschichte und tiefere Ursachen. Diese zu ergründen und zu verstehen, hat nichts mit Rechtfertigung zu tun. Es kann dabei helfen, zu realistischeren Einschätzungen zu kommen und Lösungen zu suchen. Dabei müssen gleichermaßen innere Entwicklungen in den beteiligten Staaten in den Blick genommen werden wie machtpolitische Konstellationen auf der internationalen Ebene. Wir dürfen die zahlreichen Kriege, Bürgerkriege und enormen Spannungen auf der Welt nicht verdrängen, nur weil sie einige hundert oder tausend Kilometer weiter entfernt stattfinden: Ex-Jugoslawien, Tschetschenien, Aserbaidschan-Armenien, Indien-Pakistan, Sudan, Mali, Afghanistan, Syrien, Irak, Israel-Palästina, Libyen, Jemen, um nur einige zu nennen. Dort übertreffen oder übertrafen die Opferzahlen und Schäden die Ukraine teilweise bei weitem. An den meisten Stellen sind die großen Mächte mehr oder weniger beteiligt.

Wir Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen wehren uns gegen den Aufbau und die aktuelle Zuspitzung von Feindbildern und simplem Freund-Feind-Denken.

Noch zu Zeiten des „Kalten Krieges“ und extrem ausgeprägter Blockkonfrontation kam es zu umfangreichen Rüstungsbegrenzungsabkommen wie SALT und START zwischen den USA und der Sowjetunion sowie zum KSZE-Prozess mit der Anerkennung von Menschenrechten und konventioneller Abrüstung. Diese Abkommen wurden durch vertrauensbildende Maßnahmen, Kontrollen und institutionalisierte Gesprächsformate abgesichert. „Partnerschaft für den Frieden“ (1994), „Budapester Memorandum“ (1994), „Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit“ sind weitere Stichworte in diesem Zusammenhang, bis hin zum NATO-Russland-Rat. In Deutschland war damals die Rede davon, dass wir international nur noch von Freunden umgeben seien.

Die anschließende Phase ab dem Ende der 90er Jahre brachten beiderseitige Enttäuschungen zwischen den USA und Russland und Irritationen in Europa: Krieg in Jugoslawien, Kündigung des ABM-Vertrages durch die USA (2001), gegenseitige Vorwürfe, die Abkommen nicht einzuhalten, NATO-Osterweiterung einschließlich der Beitrittsangebote an Georgien und die Ukraine seitens der US-Regierung 2008, der kurze Krieg zwischen Georgien und Russland kurz danach, Suspendierung des KSE-Vertrages durch Russland 2007 bis zum Austritt 2015… Die Konflikte eskalierten bei der Auseinandersetzung um die Ukraine nach dem Maidan-Prozess, dem Assoziierungsabkommen der Ukraine mit der EU, der Besetzung der Krim und schließlich der Abtrennung von Donezk und Luhansk durch Russland nach fortlaufenden militärischen Auseinandersetzungen an den Demarkationslinien – und somit der Aufkündigung der Abkommen von Minsk – , des Bruchs des Völkerrechts, des Budapester Abkommens, dann des INF- und KSE-Vertrages. Schon 2014 hatte der Westen nach der Besetzung der Krim Russland aus dem G-8-Format ausgeschlossen.
Auch war das Verhältnis Deutschlands zu Russland in den letzten vierzig Jahren starken Schwankungen unterworfen. Aus dem gesamten historischen Zusammenhang verbietet es sich, Russland – trotz seiner aktuell verbrecherischen Politik – dauerhaft zum Feind zu erklären. Es sei nur daran erinnert, dass ohne die Reformpolitik Gorbatschows keine deutsche Wiedervereinigung oder die Auflösung der seinerzeitigen Blockkonfrontation möglich gewesen wäre.

Parallel zu den internationalen Verwerfungen kam die innere Verhärtung und die Herausbildung autokratischer, gewaltgeprägter Strukturen im russischen Oligarchenstaat. Die ökonomische und politische Transformation nach dem Untergang des sowjetischen Staatsmodells in Richtung auf Demokratie und einen wie auch immer geregelten Kapitalismus muss schon nach den ersten Jahren als gescheitert betrachtet werden. Die chaotischen Verhältnisse der ersten Nach-Wende-Jahre unter Boris Jelzin werden auch westlichen Einflüssen zugerechnet und dienen jetzt der Legitimation der „Ordnung“ unter Putin.

Nach und nach zeigt sich, welche bisher kaum beachteten Machtverhältnisse hinter dem einfachen Bild von dem auf eine Person zentrierten Staatsapparat existieren. Die Vorstellung von einem schlichten Austausch der russischen Regierung als Weg zu einer Friedenslösung erweist sich nicht nur von Anfang an als unrealistisch, sondern auch als höchst gefährlich.

Innerhalb von weniger als zwanzig Jahren haben wir die Auflösung einer sehr weit entwickelten Sicherheitsarchitektur hin zu einer kaum noch zu beherrschenden militärischen Konfrontation zwischen einer Atommacht Russland und – bisher indirekt – dem westlichen Verteidigungsbündnis NATO erlebt.

3) Weltweites Umfeld des Krieges, geopolitische Ursachen und Auswirkungen

Der Krieg in der Ukraine ist aus deutscher und europäischer Sicht ein besonders schwerwiegendes Geschehen. Er ist aber kein singuläres (für sich alleinstehendes) Ereignis. Der im Zusammenhang damit geprägte Begriff der „Zeitenwende“ macht nur dann Sinn, wenn man ihn in einen weiter gehenden Zusammenhang stellt. Dieser kaum für möglich gehaltene Angriffskrieg auf europäischem Boden fällt in eine Zeit, in der in allen Ländern der Welt vielfache Krisen gleichzeitig auftreten, die sich seit Jahren zugespitzt und verschärft haben:

  • erstens die soziale Krise mit der sich immer weiter vergrößernden Ungleichheit und Ungerechtigkeit, sowohl innerhalb der Gesellschaften als auch durch das enorme Wohlstandsgefälle zwischen Staaten und Regionen,
  • zweitens die vielschichtige ökonomische Transformationskrise in den Lebens- und Arbeitswelten durch Digitalisierung, Dekarbonisierung (dem Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas), den Krisen der Finanzmärkte und in den weltweiten Lieferketten und Wirtschaftsbeziehungen,
  • drittens dem Klimawandel und der knapper werdenden Ressourcen an Rohstoffen, Wasser und Land,
  • viertens der Krise staatlichen Handelns angesichts der abgehobenen Finanzmärkte, der Zusammenballung von weitgehend unkontrollierter wirtschaftlicher Macht von superreichen Einzelpersonen und Familien einerseits und eines zunehmenden Teils der Bevölkerungen, der nicht mehr vom Sozialstaat erreicht wird und der sich vom politischen System ausgegrenzt sieht,
  • fünftens die Wanderungsbewegungen, die durch die genannten Zustände auf der Welt, insbesondere Armut, Kriege und Bürgerkriege, soziale Konflikte, Ressourcenknappheit und Klimawandel, Ausbeutungsverhältnisse und das Reichtumsgefälle ständig zunehmen und ihrerseits sowohl in den Herkunftsländern als auch in den Zielländern massive soziale und politische Verwerfungen hervorrufen.

Innerhalb vieler Staaten, auch in Deutschland, verdichten sich diese Krisen zu Krisen der bestehenden politischen Systeme. Die Zustimmung zu Demokratie und Freiheit nimmt ab.

Die Konfrontation von Großmächten und Machtblöcken in allen Teilen der Welt verschärft sich. Einerseits rücken die USA und der „Westen“ außenpolitisch und militärisch näher zusammen. Hier sehen sich die Regierungen immer stärker in Konfrontation zu China und Russland. Die Machtblöcke und Nationalstaaten konkurrieren um Macht und Einfluss auf Indien, Brasilien und andere Schwellenländer, den Nahen Osten und Afrika. Im Kern geht es dabei um den teilweise offen ausgetragenen, teilweise verdeckten Kampf um die immer knapperen Ressourcen (Land, Rohstoffe) und Märkte auf der Welt.

Diese Entwicklung macht deutlich, dass wir gefordert sind, die Rolle Deutschlands und Europas in dieser Auseinandersetzung neu zu definieren. Unser Weg kann es weder sein, sich aus allem herauszuhalten, noch sollten wir in einer multipolaren Welt Teil eines der Großmacht-Blöcke sein. Wir wollen das Blockdenken überwinden und nach Wegen kollektiver Sicherheit für alle suchen.

Das „Ende der Geschichte“ ist schon zu Ende: Es gibt keinen globalen Trend zum freiheitlichen und parlamentarisch-demokratischen Staatsmodell auf kapitalistischer Basis. Autokraten, religiöse Fundamentalisten, Rassisten und Rechtsextreme gewinnen weltweit an Boden. Nur eine Minderheit der Menschen auf der Welt wird derzeit nach unseren Vorstellungen von Freiheit, Menschenrechten und Demokratie regiert. Weitestgehend durchgesetzt hat sich jedoch die kapitalistische Wirtschaftsweise, sei es in Form mehr oder weniger „sozialer“ Marktwirtschaften, sei es in den oligarchisch geprägten Volkswirtschaften wie der Russlands, der Ukraine und anderer Nachfolgestaaten der Sowjetunion, sei es in den postkolonialen Ökonomien Afrikas und Lateinamerikas. Auch China kann für sich nicht beanspruchen, ein alternatives wirtschaftliches Modell, geschweige denn ein „kommunistisches“, anzubieten. Die gesamte Weltwirtschaft wird überwölbt von einer kapitalistischen, von den Finanzmärkten getriebenen Globalisierung. Diese funktioniert bisher nach den Prinzipien weitgehend ungebändigter, offener Märkte. Die Länder mit starken Volkswirtschaften verschaffen sich in diesem Modell immense Vorteile.

Diese neoliberale Globalisierung produziert innerhalb der Gesellschaften und zwischen Staaten und Regionen eine wachsende Zahl an Verlierern und Verliererinnen ebenso wie eine Klasse von wenigen superreichen Eliten, die sich jeglicher staatlichen Regulierung durch Gesetze oder Besteuerung, entziehen.
Vor dem Hintergrund dieser Fehlentwicklungen und Krisen werden auch in den westlichen Demokratien die Kräfte immer stärker, die sich positiv auf autoritäre nationalistische Lösungen beziehen, massiv die Modernisierungsbedarfe im Zuge der Transformation leugnen und Reformen aller Art bekämpfen. Sie verteidigen die alten sozialen und geschlechtsspezifischen Hierarchien und Verteilungsverhältnisse. Sie finden ihren gesellschaftlichen Unterbau in den Spaltungen, die aus dem Strukturwandel in der Arbeitswelt, aus den ungerechten Verteilungsprozessen und aus Abstiegsängsten resultieren. Sie profitieren auch von den Folgen neoliberaler „Reformen“ mit dem Abbau sozialer Leistungen und dem Abbau der öffentlichen Daseinsvorsorge. Diese wurden stets mit den Sachzwängen der Globalisierung und der Notwendigkeit, national mit niedrigen Gewinnsteuern und schlankem Sozialstaat „wettbewerbsfähig“ sein zu müssen, begründet.

Die sich in der Krise befindende neoliberale Globalisierung mit möglichst freien und offenen Märkten läuft Gefahr, nunmehr von nationaler oder blockweiser Abschottung abgelöst zu werden. Lieferketten, von denen die Versorgung weiter Bevölkerungsteile ebenso abhängt wie die Produktion und der Absatz der Industrien, waren zeitweise massiv gestört und sind labil geworden. Dafür sind Kriegsfolgen, Pandemie, regionale Konflikte und überlastete Kapazitäten gleichermaßen verantwortlich. Der daraus folgende Wunsch nach mehr Unabhängigkeit davon geht mit zunehmender politischer und wirtschaftlicher Konfrontation einher. Demagogen und Gegner der Demokratie übersetzen den Wunsch nach einem handlungsfähigen Staat in einen Ruf nach dem starken, autoritären Staat mit klaren Hierarchien mit starken Führungspersönlichkeiten und harter Abgrenzung nach außen.

Volkswirtschaften mit hoher internationaler Verflechtung wie die deutsche geraten wirtschaftlich deutlich mehr unter Druck als binnenmarktzentrierte Volkswirtschaften wie die der USA oder Rohstoffieferanten wie die Russlands oder Öllieferländer des Nahen Ostens.
Es macht zwar daher aus deutscher und europäischer Sicht Sinn, sich von einseitigen Abhängigkeiten wie von russischer Energie, US-amerikanischen Datenkraken sowie chinesischen Rohstoffen und Industriemärkten zu befreien. Es macht aber wenig Sinn, neue einseitige Abhängigkeiten, auch innerhalb einer (vermeintlichen?) Wertegemeinschaft, aufzubauen.

4) Folgen für den politischen Diskurs in Deutschland

In Deutschland hat der russische Angriff und der andauernde und sich zuspitzende Krieg weitreichende Konsequenzen, sowohl auf politische Entscheidungen wie im Bewusstsein der Bevölkerung. Der Krieg ist sehr nahe gerückt. Schon vorher diskutierte Maßnahmen der militärischen Aufrüstung wie das Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für militärische Zwecke auszugeben, werden jetzt zur Sofortmaßnahme. Krieg, Waffenlieferungen, ja selbst ein Atomkrieg sind Gegenstand von Alltagsdebatten. Krieg, Waffenlieferungen und Aufrüstung sind permanent in den Medien präsent. Die Friedensbewegung erscheint sprachlos und ist selbst in der Frage des Umgangs mit der russischen Aggression gespalten, ebenso die Bevölkerung und auch die SPD. Die Entspannungspolitik wird ebenso in Frage gestellt wie Interessenausgleich, Diplomatie und Verhandlungen an sich.
Vor allem Grüne und Konservative laden die Außenpolitik immer mehr ideologisch auf, geraten dabei in eigene Widersprüche und stoßen viele andere Länder, Völker und Regierungen vor den Kopf. Währenddessen gerät die Aufarbeitung der allesamt gescheiterten Einsätze der Bundeswehr in Afghanistan, Mali, oder im Sudan völlig aus dem Blick. Von Hintergründen und Ursachen sowie von Perspektiven für die genannten Regionen ist außerhalb von Expertenkreisen nicht die Rede. Auch die mehrfach angekündigte Überarbeitung der Rüstungsexportrichtlinien kommt nicht voran.

5) Herausforderungen und Aufgaben für sozialdemokratische Politik

Der Krieg in der Ukraine wird keine Sieger oder Gewinner, sondern nur Verlierer bei den beiden unmittelbar beteiligten Staaten kennen.
Unabhängig von der Frage, wie wir zu den laufend gesteigerten Waffenlieferungen an die Ukraine und zu den Ursachen der russischen Aggression stehen, muss es Aufgabe sozialdemokratischer Außenpolitik sein, die Spirale der Eskalation zu stoppen, den Krieg von seinem Ende her zu denken und möglichst kurze Wege zu einem Ende des Blutvergießens zu suchen. Auch dieser Krieg wird keine militärische Lösung bringen.
Ziel ist eine neue europäische Friedensordnung ohne Atomwaffen, mit kontrollierbarer Begrenzung konventioneller Waffensysteme und einem neuen KSZE-Prozess. Die OSZE kann wieder zu einer Plattform für Gespräche der gesamten europäischen Staatengemeinschaft und eine neue Friedensordnung werden. Wir sollten sie neu beleben.
Dazu sind – auch ohne sofortigen Waffenstillstand – unverzüglich Verhandlungen über dritte Staaten anzustreben und zu unterstützen. Die diesbezüglichen Angebote Chinas, Brasiliens und Südafrikas sind von Seiten Deutschlands, der EU und des Westens aufzugreifen, gerade dann, wenn man Einfluss auf mögliche Ergebnisse gewinnen will. Es gilt auch zu verhindern, dass das Geschehen noch mehr zum Gegenstand des Wahlkampfes in den USA wird.
Diese Gespräche müssen ohne Vorbedingungen wie sofortigen Waffenstillstand, Regime-Change (Regierungswechsel) in Russland, Ausschluss bestimmter Resultate (Beitritt zur NATO oder EU…) geführt werden. Sie dürfen nicht bei vorläufigen Ergebnissen wie im Fall der Minsker Abkommen stehenbleiben, sondern müssen Durchsetzungsmechanismen von Garantiemächten enthalten.

Auch in diesem Krieg ist die Wahrheit schon vorab gestorben. Deshalb müssen wir darauf bestehen, seine Vorgeschichte, Ursachen und Triebkräfte und die Verbrechen umfassend aufzuarbeiten. Und deshalb werden wir uns immer und überall für den freien und gleichberechtigten Zugang zu Informationen für alle Menschen einsetzen.
Wir sollten unsere Glaubwürdigkeit erhöhen und unvoreingenommen, ohne doppelte Standards und ohne erhobenen Zeigefinger Gespräche und Verhandlungen unterstützen.
Die weltweiten Spannungen und Ursachen von Kriegen, Gewalt und Terror wirken immer stärker auch auf Europa zurück. Dauerhafter Frieden wird nur gelingen, wenn Konfliktursachen in aller Welt nach und nach beseitigt werden. Dazu gehört die Früherkennung von Spannungen und deren Ursachen sowie international abgestimmte Konfliktprävention.
Deshalb streben wir ein neues Modell von Globalisierung an: ein völkerrechtlich abgesichertes, gerechtes, durchsetzungsfähiges, sanktionsbewehrtes Regelwerk. Dieses darf nicht nur von einer Staatengruppe wie dem „freien Westen“ geprägt sein, sondern muss die Interessen möglichst aller Staaten und Regionen gleichberechtigt berücksichtigen. An Analysen sowie an Vorschlägen beispielsweise zur Reform der Vereinten Nationen mangelt es nicht, aber es gibt massive Widerstände – vor allem von Seiten der Großmächte, die bisher die Strukturen der UN dominieren und ihre Handlungsfähigkeit blockieren.

Ohne mehr Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit werden sich die Konflikte auf der Welt weiter verschärfen. Sie werden möglicherweise auch immer näher an unsere Grenzen heranrücken. Eine neue Weltwirtschaftsordnung muss daher soziale und ökologische Standards und sanktionsbewehrte Regeln durchsetzen. Eine neue Welthandelsorganisation darf nicht mehr unter der Überschrift des Freihandels den Wettlauf nach unten bei Löhnen, sozialer Sicherung und Umweltschutz anleiten. Stattdessen muss sie dynamische Mindeststandards setzen und nationale Schutzmaßnahmen in einem bestimmten Rahmen ermöglichen. Für die EU und Deutschland heißt das konkret, das Konzept der Grenzausgleichsmaßnahmen sowohl auf den Klimaschutz (CO2-Abgabe, „Green Border Tax“) als auch auf soziale Gerechtigkeit anzuwenden. Letzteres bedeutet einen gestaffelten Zoll für Importe aus Ländern mit hoher sozialer Ungerechtigkeit und im Vergleich zum Volkseinkommen besonders niedrigen Löhnen oder extremen Formen der Ausbeutung („Red Border Tax“). Es dürfen auf dem Weltmarkt nicht mehr die Volkswirtschaften mit den höchsten Belastungen für Mensch, Klima und Umwelt gewinnen.
Wirtschaftssanktionen können in einem solchen System nicht mehr das einseitige Recht von Stärkeren sein. Sie dürfen nur nach abgestimmten Regeln eingeführt werden und müssen einfacher und flexibler zurückgeführt werden können.

Nationale Politik muss die Chancen eines nachhaltigen, Ressourcen und Klima schonenden Umbaus der Volkswirtschaft für eine Entspannung der globalen Verteilungskonflikte und einen rationalen Interessenausgleich zwischen den Regionen nutzen. Dazu brauchen wir die demokratische, soziale und ökologische Gestaltung der Transformation und der Energiewende: eine Demokratisierung aller Lebensbereiche und mehr Gerechtigkeit bei Einkommen und Mitsprache der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften. Gleichzeitig stärken wir den Sozialstaat und die Daseinsvorsorge (Kinderbetreuung, Bildung, Gesundheit, Pflege, Rente…). Die Märkte werden das immer weniger auf sozialverträgliche Weise regeln. Auf einen politisch handlungsfähigen Staat kommen auf allen Ebenen von der Kommune über die Länder und den Bund bis zur Europäischen Union wesentlich größere Aufgaben zu.

Im In- und Ausland werden wir die Triebkräfte von Gewalt und Krieg nur begrenzen können, wenn wir den Vorrang sozialer und demokratischer Politik gegenüber globaler Ökonomie und Rüstungswirtschaft herstellen. Daher darf es keine Profitinteressen aus der Rüstungsindustrie und keine wirtschaftlichen Interessen an Kriegswirtschaft geben, die politische Entscheidungen beeinflussen. Wir sind daher für strenge, öffentlichkeitswirksame Kontrollen der Beziehungen zwischen Rüstungskonzernen und politischen Entscheidungsstrukturen jeglicher Art, für die völlige und zeitnahe Offenlegung von Spenden an Parteien und Politiker sowie aller anderen Finanzströme, die von Rüstungsunternehmen an zivilgesellschaftliche Einrichtungen, Vereine und Verbände fließen. Dieses Gebot der Transparenz gilt auch für Verbindungen der Rüstungswirtschaft in europäische oder internationale Verbünde. Rüstungsexporte wollen wir transparent und restriktiv handhaben: Parlamentarische Begleitung, Offenlegung von Interessenverflechtungen und Spenden an Parteien und MandatsträgerInnen, europäische Koordination mit klaren Kriterien.

6) Zusammenfassung: Grundsätze und Ziele sozialdemokratischer internationaler Politik

Die SPD verstand und versteht sich als Partei des Friedens. Sie stand immer dann auf der richtigen Seite der Geschichte, wenn sie gegen den Militarismus und die Kolonialpolitik des Kaiserreichs gekämpft hat, nach dem Ersten Weltkrieg Frieden und Ausgleich mit den Nachbarstaaten bis hin zu einem europäischen Staatenbund gesucht hat, vor der aggressiven Eroberungspolitik des Faschismus gewarnt hat, in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts gegen die atomare Aufrüstung mobilisiert hat und die Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr getragen und zum Erfolg geführt hat. Auch wenn sie selbst nicht pazifistisch im engeren Sinne ist, betrachtet sie Pazifismus als Bestandteil ihrer Ideenvielfalt.

Grundlage unserer internationalen Politik ist das Völkerrecht und eine regelbasierte Weltordnung. Das bedeutet als Vision eine Welt-Innenpolitik, die auch mit Durchsetzungsmechanismen wie einer Polizei und einer unabhängigen Welt-Gerichtsbarkeit ausgestattet ist. Voraussetzung für ein funktionierendes Rechtssystem dieser Art ist, wie im staatlichen Inneren, ein klassen-, regionen-, staaten- und staatsformenübergreifender Minimalkonsens über die Prinzipien einer solchen Ordnung.

Dies kann aber nur auf der Grundlage einer gerechteren, weltumspannend akzeptierten Wirtschafts- und Sozialordnung beruhen, die den Kapitalismus und andere Formen der Ausbeutung im nationalen und internationalen Maßstab überwindet. Dies darf kein abstraktes Ziel für den globalen Sankt-Nimmerleinstag sein, sondern muss handlungsleitend in der deutschen Politik werden.

Voraussetzung einer solchen dem Frieden dienenden Weltordnung ist die Überwindung militärischen, politischen und ökonomischen Blockdenkens oder auch der Dominanz einer einzigen Weltmacht. Die Regeln müssen für alle Regionen und Staaten dauerhaft gelten. Sie müssen die aktuell vorhandenen doppelten Standards, die nur das Recht der militärisch und medial Stärkeren widerspiegeln, überwinden. Eine neue, zwangsläufig multipolare Weltordnung muss auf Regeln basieren, die wie eine Art Verfassung weltweit anerkannt und vertraglich abgesichert sein muss.

Institutionell bedarf es dafür einer grundlegenden Reform der Vereinten Nationen. Deren Entscheidungsgremien müssen demokratisch legitimiert sein und möglichst repräsentativ die Weltbevölkerung abbilden. Entscheidungen bedürfen dann spezifisch definierter, qualifizierter Mehrheiten. Das Vetorecht jedes einzelnen Mitglieds des Weltsicherheitsrates sowie generell dessen Zusammensetzung werden den Anforderungen einer weltweiten Friedensordnung nicht gerecht. Verstöße gegen diese sind nach klaren Regeln transparent und allgemein nachvollziehbar zu machen, mit qualifizierten Mehrheiten festzustellen, und mit angemessenen Sanktionen gegen die politisch Verantwortlichen durch die Weltgemeinschaft zu ahnden. So muss auf der Grundlage von Kontrolle und dem Aufbau von gegenseitigem Vertrauen verhindert werden, dass sich einzelne Machthaber kurzfristige Vorteile durch Kriegshandlungen verschaffen wollen. Die Entscheidungen, Instrumente und Maßnahmen sind für die Weltöffentlichkeit nachprüfbar und fortlaufend auf Wirksamkeit und Angemessenheit zu überprüfen.

Voraussetzung einer dauerhaften friedlichen Weltordnung ist soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit. Wir brauchen eine neue Weltwirtschaftsordnung, die die neoliberal geprägte Globalisierung ebenso überwindet wie den Rückfall in nationale oder blockweise Abschottung. Dazu bedarf es neuer Regeln im Welthandel, die den freien Austausch von Waren und Dienstleistungen strikt an soziale, ökologische, finanzmarktregulatorische und datenrechtliche Standards binden. Dafür sind die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) einschließlich der Schiedsgerichtsbarkeit grundlegend zu verändern.

Als ersten Schritt müssen wir globale Transparenz über die gegenwärtigen Strukturen in der Weltwirtschaft von der Rohstoffgewinnung, deren Aneignung, menschlichen und ökologischen Folgen, über die nationalen und internationalen Verteilungsverhältnisse bis zu den Finanz- und Datenströmen herstellen. Daraus sind langfristige Alternativen und Zielvorstellungen zu entwickeln, die Gier und Profitdenken überwinden.

Die neue Wirtschaftsordnung kann nur auf den Prinzipien der Gleichbehandlung, des Respektes vor unterschiedlichen Staats- und Lebensformen und auf Augenhöhe zwischen den Staaten und Regierungen entstehen.

Deutschland und der EU kommt die Aufgabe zu, diese Ansätze internationaler Politik voranzutreiben. Darin kann eine Führungsrolle gesehen und übernommen werden, die international zur Debatte gestellt wird. Deutschland und die EU können dagegen kein Interesse an neuen Feindbildern, Blockkonfrontation und Ausgrenzung von Staaten und Regionen haben. Die Europäische Union darf – unter anderem aus Rücksicht auf die neutralen Staaten und wegen der Vermeidung von Doppelstrukturen – kein militärisches Bündnis werden.
Dies bedeutet keineswegs Gleichgültigkeit oder Neutralität gegenüber Menschenrechtsverletzungen und militärischen Aggressionen.
Wenn wir feststellen, dass aktuell die Mehrheit der Menschen in politischen Systemen lebt, die nicht unseren Vorstellungen von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten entspricht, zeigt die Erfahrung, dass es wenig Erfolg bringt, durch politischen, wirtschaftlichen oder gar militärischen Zwang anderen Staaten unser System aufzunötigen.
Vielmehr müssen wir unser wirtschaftliches und politisches System in Richtung von mehr Mitbestimmung im Lebensalltag, mehr Gerechtigkeit, guter Arbeit und Nachhaltigkeit ausgestalten. Der von uns reklamierte Vorbildcharakter von Freiheit und Demokratie drückt sich weder im erhobenen Zeigefinger noch in militärischer Macht aus. Für uns steht dennoch fest, dass demokratisch verfasste Gesellschaften mit entwickelten Zivilgesellschaften, Rechts- und Sozialstaat eher in der Lage sind, zu einer friedlicheren Welt zu gelangen. Frieden, Gerechtigkeit und Demokratie stützen sich gegenseitig.
Wir müssen uns leiten lassen von der Glaubwürdigkeit und mittel- und langfristiger Wirksamkeit politischer, wirtschaftlicher und – im äußersten Fall völkerrechtlich legitimierter militärischer/polizeilicher – Maßnahmen. Wer führen will, muss selbst über Zweifel an der Einhaltung der eigenen Maßstäbe erhaben sein und/oder seine nationalen Interessen offenlegen. Doppelmoral und simple Feindbilder beschädigen die eigene Glaubwürdigkeit.
Wir wehren uns gegen alle Versuche, Krieg wieder als Mittel nationaler oder nicht legitimierter Politik vorstellbar zu machen, die öffentliche Debatte zu militarisieren, Wehrdienst und Musterung wieder einzuführen. Wir unterstützen die Kräfte und Initiativen, die auf Vermittlung, Ausgleich und dauerhafte Friedenssicherung ausgerichtet sind.