Herbert Sahlmann, Vortrag bei SPD AG 60plus am 20.07.2023 in Bad Godesberg
Warum bin ich Pazifist und was bedeutet für mich Pazifismus?
Anrede,
Über meinen Vortrag möchte ich das Wort von Willy Brandt stellen: „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts!“
Warum bin ich Pazifist?
Weil ich die furchtbaren Auswirkungen von Krieg mehrmals in meinem Leben hautnah erlebt habe:
Als fünfjähriger Junge habe ich in Hamburg im Juni 1943 den Bombenhagel in einem Hochbunker erlebt, der getroffen wurde. Frauen und Kinder schrieen.
Als wir am nächsten Morgen den Bunker verließen, sahen wir ein Feuerinferno ringsum. Auch das benachbarte elterliche Haus brannte lichterloh. Gegenüber vor einer Klinik lagen Tote und schwer Verletzte, die keinen Platz mehr in der Klinik gefunden hatten.
Ein Verwandter brachte uns mit seinem offenen 3-Rad- Lieferwagen durch das brennende und zerstörte Hamburg nach Bergedorf, ein 18 km östlich gelegener Vorort, in dem der Boden vollständig mit Asche bedeckt war. Wir sahen einen in einer riesigen Stichflamme explodierenden Munitionszug, nur wenige Hundert Meter von uns entfernt.
Als Student geriet ich 1965 in der umkämpften Grenz-Stadt Lahor in den pakistanisch–indischen Krieg wegen des Konfliktes um Kashmir. Wir mussten Splittergräben ausheben, weil die hör- und vom Dach sehbaren Panzerkämpfe nur wenige km entfernt waren. Erst nach einer Woche konnten wir mit einem UNO-Konvoi das Kampfgebiet verlassen und nach Afghanistan flüchten.
Später bin ich als BMZ-Mitarbeiter im Libanon und in Ostafrika unvorhersehbar in kriegerische Auseinandersetzungen geraten. Auf meinen Reisen in Afrika, Asien und Lateinamerika habe ich zudem unvorstellbares Elend und viele Hungertote gesehen, auch von Kriegen verursacht.
Neben diesen emotionalen Schlüsselerlebnissen sagt mir mein Verstand, dass Rüstung und Kriege unglaubliche finanzielle und materielle Ressourcen verbrauchen, große Klimaschäden anrichten, Infrastrukturen zerstören, viele Menschen töten oder schwer verletzen und große Flüchtlingsströme weltweit verursachen.
Mit den militärisch eingesetzten Ressourcen könnten Hunger und große Armut auf unserem Planeten beseitigt und große Beiträge zum Schutz des Klimas und dem Umwelterhalts geleistet werden.
Aus all dem habe ich für mich den Schluss gezogen, mich mein Leben lang für Frieden und Gerechtigkeit einzusetzen, privat und im Beruf in der Entwicklungspolitik.
Was bedeutet für mich Pazifismus?
Wörtlich übersetzt aus dem Lateinischen heißt es Frieden machen/gestalten.
Frieden muss aktiv gestaltet werden. Sich abzeichnende Konflikte und Ungerechtigkeiten müssen bearbeitet und rechtzeitig abgebaut werden.
Schon Kant hat 1795 in seiner Abhandlung „Zum ewigen Frieden“ ausgeführt, dass nicht Frieden ein Naturzustand ist, sondern eher der Krieg ein solcher. Frieden muss deshalb „gestiftet“, also gestaltet und immer wieder errungen werden. Kant hat dazu die Entwicklung eines vertraglich abgesicherten universellen Völkerrechts vorgeschlagen mit der „Grundvoraussetzung eines universellen und vollkommenen Republikanismus“.
Alfred Fried hat nach Aufforderung der sozialdemokratischen Pazifistin und Frauenrechtlerin Bertha von Suttner schon 1901 den Begriff Pazifismus so definiert:
„Pazifismus soll die Gesamtheit der individuellen und kollektiven Bestrebungen bezeichnen, eine Politik friedlicher, gewaltfreier zwischenstaatlicher Konfliktaustragung propagieren und den Endzustand einer friedlich organisierten, auf Recht gegründeten Staaten- und Völkergemeinschaft zum Ziel haben“.
Das universelle Völkerrecht ist dann zumindest teilweise 1946 mit der VN-Charta geschaffen worden, wobei u. a. das Vetorecht der 5 Mächte im VN-Sicherheitsrat den Kant-schen „vollkommenen Republikanismus“ verhindert.
Ich kann und will hier nicht auf die lange Geschichte des Pazifismus und die vielen Ausprägungen des Pazifismus wie „religiöser“, „bürgerlicher“, „wissenschaftlicher“, „radikaler“, „revolutionärer“, „anarchischer“ und „Atom- oder Nuklear-Pazifismus“ eingehen.
Aber ich will noch mein pazifistisches Verhalten erklären.
Für mich bedeutet Frieden viel mehr als Abwesenheit von Krieg.
Für mich bedeutet Frieden „gute Nachbarschaft nach innen und nach außen“ und das sollte auch für alle Staaten gelten.
Für mich bedeutet Frieden, diesen zu gestalten, mehr Gerechtigkeit in allen Politikfeldern zu schaffen, den Kapitalismus zu bändigen und Natur und Klima zu schützen. Das gilt auch für mein eigenes Verhalten und meinen eigenen Ressourcenverbrauch.
Aber ich bin leider selbst noch weit davon entfernt, mein persönliches Verhalten radikal anzupassen.
Pazifismus heißt für mich persönlich gewaltfrei zu leben, friedliebend mich zu verhalten. Ich habe deshalb nicht in der Bundeswehr gedient, musste allerdings den Wehrdienst nicht verweigern, weil ich während Ausbildung und Studium nicht eingezogen werden konnte.
Pazifismus heißt für mich aber nicht wehrlos zu sein.
Waffen dürfen allerdings nur zur Verteidigung angeschafft und eingesetzt werden. Artikel 26 GG (Verbot des Angriffskrieges), muss strikt eingehalten werden. Er lautet: „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.“
Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis und dürfte nur zur Verteidigung der eignen Territorien und nicht „Out of Area“ eingesetzt werden! Solche Einsätze dürfen nur mit VN-Mandat erfolgen. Das wird oft vom Westen missachtet!
Aufrüstung und Waffengewalt haben, wie uns die Geschichte lehrt, noch nie zu nachhaltigem Frieden geführt.
Wir haben das bei den beiden durch Nationalismus und Machtwahn verursachten verheerenden Weltkriegen erlebt.
Alle Militäreinsätze der letzten Jahrhunderte haben nie Frieden gebracht, sondern Tod und Zerstörung über die Völker: in Afghanistan, in Syrien, im Irak und in vielen Regionen mehr. Auch der Dreißgjährige Krieg, der Europa im 17. Jahrhundert verheert hat, ist nicht durch Militäreinsatz beendet worden. Venezianische Diplomaten haben in zähen 5-jährigen Verhandlungen parallel zum Krieg den Westfälischen Frieden ausgehandelt und geschaffen.
Ich möchte jetzt noch einige wichtige Prinzipien zur Friedensgestaltung und zur Terrorismusbekämpfung darstellen und zum Schluss eine aktuelle sozialdemokratische Initiative in Hamburg „Mehr Diplomatie wagen!“, vorstellen, die Elemente aufzeigt, wie der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine in einen nachhaltigen Frieden überführt werden könnte.
Die Prinzipien für ein Befriedungs- und Entwicklungskonzept habe ich im Rahmen meiner entwicklungspolitischen Unterstützungsarbeit für Afghanistan gemeinsam mit afghanischen und deutschen Partnern entwickelt und mit 20 konkreten Maßnahmen untermauert, die ich hier aber nicht alle vortragen kann:
- Eigene Stärke des Westens entwickeln und durchhalten, vor allem moralisch und nicht nur ökonomisch und militärisch, d.h. keine Double Standards!
- Gewaltverzicht, d. h. Waffeneinsatz nur zur Selbstverteidigung und zum Schutz staatlicher Institutionen, also Unterstützung für die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols.
- Koexistenz und Kooperation, das bedeutet Akzeptanz aller innergesellschaftlicher Kräfte, soweit sie sich zur VN-Charta bekennen, ein fairer innergesellschaftlich verhandelter Interessenausgleich, zu dem Machtteilung, Armutsminderung und ein gerechtes Steuer- und Abgabensystem gehören – und eine „Entwicklungszusammenarbeit auf gleicher Augenhöhe“.
- Gemeinsame Sicherheit durch Dialog und Einbeziehung der Sicherheitsbedürfnisse aller beteiligten Parteien in die eigene Sicherheitsstrategie zu schaffen.
Zur Bekämpfung von Terrorismus, der heute in vielen Weltregionen den Frieden bedroht, hat die irisch-amerikanische Terrorismusforscherin Louise Richardson sechs klare Regeln aufgestellt, die ich noch vorstellen möchte, weil sie bei Beachtung – aus meiner Sicht – den Terrorismus wenigstens eingrenzen und viel Elend und Zerstörung in der Welt verhindern könnten:
1. Ein vertretbares und erreichbares Ziel setzen
2. Nach den eigenen Prinzipien leben
3. Den Feind genau kennen
4. Die Terroristen von ihren Gemeinschaften trennen
5. Verbündete im Kampf gegen den Terrorismus suchen
6. Geduld haben und das Ziel im Blick behalten.“
Leider werden diese Regeln auch vom Westen immer wieder sträflich missachtet.
Zum Schluss meines Vortrages möchte ich zur aktuellen Kriegssituation in der Ukraine die Hamburger sozialdemokratische Initiative – „Mehr Demokratie wagen“ – vorstellen, die ich gemeinsam mit dem „Erhard Eppler-Kreis Frieden 2.0“ unterstütze, weil ich überzeugt bin, dass unverzüglich auf diplomatischem Wege ein Waffenstillstand und ein Friedensschluss herbei verhandelt werden muss, im Interesse der Ukraine, Russlands, Europas und der Welt.
„Wir, Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, fordern und treten dafür ein:
- Die vielfach angekündigten diplomatischen Initiativen für einen Waffenstillstand konsequent zu einem guten Ergebnis zu bringen. Eskalation jeder Art, auch rhetorisch, ist zu unterlassen.
- Deeskalation, das Ende der Kriegshandlungen und eine zivile Konfliktlösung mit einer Rücknahme der Wirtschaftssanktionen zu verbinden.
- Die Waffenlieferungen in den Krieg zu beenden.
- Die Humanitäre Hilfe auszuweiten.
- Den Wiederaufbau der Ukraine ökonomisch und sozial nachhaltig mitzugestalten.
- Aktivitäten für die Wiederherstellung der internationalen Sicherheitsarchitektur, insbesondere der nuklearen Rüstungskontrolle und Abrüstung einschließlich des Atomwaffen-Verbotsvertrages, zu intensivieren und auszuweiten.
- UNO und OSZE für Waffenstillstandsverhandlungen und für eine internationale Friedensordnung aufzuwerten und zu nutzen.
Ferner fordern wir und treten dafür ein:
- Dass die Sozialdemokratie als Akteurin für ein gerechtes Nord-Süd-Verhältnis und eine friedliche gesamt-europäische Entwicklung und Zusammenarbeit auftritt.
- Als Teil von Friedensbewegung und zivilgesellschaftlichen Organisationen die Grundlagen für eine zivile Wende schafft und Militarismus bekämpft.
- Die innerparteiliche Diskussion über eine ‚Weltinnenpolitik‘, die den Nachhaltigkeitszielen der VN dient und Frieden und Abrüstung fördert, zu forcieren.“